Erkenntnisse
Ziel
- "textwissenschaftliche Ansätze und Interpretationspraktiken versammeln, die philosophische, literarische und wissenschaftliche Texte unter einer dezidiert textorientierten Perspektive in den Blick nehmen" (S. 1)
Literatur
- Albrecht/Danneberg/Krämer/Spoerhase 2015: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens
- Benne 2015: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit
- Martus/Spoerhase 2009: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik 35 / 36, S. 89-96
Zusammenfassung
Exposé
- spezifische Textualität eines Werkes anerkennen und herausarbeiten
- "Textmerkmale sind daher in ihrer bedeutungstragenden Funktion zu erläutern; erst dann hat es Sinn, sie akribisch zu beschreiben und sich auf die Details einzulassen." (S. 2)
- "Die Textologie geht nicht von einem vorab fixierbaren terminologischen Set oder einem stabilen Begriffsapparat aus. Was ein 'Text' oder ein 'textueller Gegenstand' ist, wodurch sich eine 'Edition' oder eine 'Lektüre' auszeichnet und welche Phänomene mit diesen Begriffen bezeichnet und adäquat erfasst werden, steht nicht fest, sondern gerade in Frage." (S. 2)
- "Die Textologie geht zunächst von der Annahme aus, dass der jeweilige Textbegriff, der einer Interpretation oder E
idition zugrunde liegt, diese wesentlich mitbestimmt." - Was ein Text ist, lässt sich nur aus der aufmerksamen Auseinandersetzung mit einem einzelnen Text und seiner Merkmale bestimmen. Die Frage besteht also, was macht diesen konkreten Text zu einem Text? Was macht einen solchen Text aus? --> Textologie ist praxeologisch (S. 4)
- Textologie ist nicht abgeschlossen, sondern schöpft sich aus der immer wieder erneut aufgegriffenen Arbeit am Text (mögliche Interpretation von S. 5)
- Textologie einigt die Fragestellung nach den funktionalen Komponenten und dem Verhältnis zwischen Textbedeutung und Autorschaft
Zur Kritik der "editorischen Vernunft". Textologie und philosophische Edition [Claus Zittel]
Textologie und Edition
- "Die Textologie wird so als historische Disziplin begriffen, welche die Veränderungen, die Dynamik von Texten untersucht und dabei aber auch den jeweiligen Darbietungskontext berücksichtigt, den sogenannten "Konvoi" des Textes, der z.B. aus Rezensionen oder der Umgebung des Druckes (z.B. in Anthologien und Zeitschriften) sich formiert (vgl. Lichačev 1971a, S.307f sowie Kraft 1973). Der Text ist hierbei nicht als fixe Entität, sondern als textum mobile begriffen: Nicht der einzelne Druck, die einzelne Handschrift, sondern die Gesamtheit der Varianten konstituiert dieser Auffassung zufolge den Text." (S. 7/8)
- "Der Text drückt ein Werk in den Formen der Sprache aus." (Lichačev 1962, S. 338)
- "Es fragt sich jedoch, ob es nicht ein Maß bei den erwähnten handgreiflichen Mängeln gibt, bei dessen Überschreitung die Deutung doch tangiert wird." (S. 9)
Philosophisches und literaturwissenschaftliches Edieren
- Das Edieren (die Neuaufbereitung) von philosophischen Texten liegt vordergründig in philosophischer Hand, die sich allerdings teilweise nicht die Frage stellen, welchen Einfluss die konkrete Textlichkeit, die Manuskripthaftigkeit von Gedanken auf die Werkwirkung haben
Philosophische Editionen
- Großprojekte haben das Problem, dass neue editionswissenschaftliche Erkenntnisse nicht in die Arbeit einfließen, da sie zu langsam bearbeitet werden
Der Kampf um die richtige Edition
- Nietzsches "Der Wille zur Macht" ist kein Hauptwerk, weil es aus teilweise unzusammenhängenden Notizen zusammengesetzt wurde, um den Anschein kohärenter Gedanken zu erwecken.
Der Widerstand gegen die Philologie
- Manche Philosophen wehren sich gegen eine Entlarvung der textlichen Vergleiche - keine Argumente gegeben, möglicherweise wegen Interpretationserhalt
Werke und Taten
- Nicht zitierbare Editionen von philosophischen Texten sind nicht das Resultat von Schlamperei, sondern von bewusstesten Entscheidungen. "Es ist daher nötig, zu verstehen, aus welchen Gründen und nach Maßgabe welcher philosophischen Überzeugungen solche Editionen erstellt werden." (S. 15)
Was ist ein philosophischer Text?
- In der Philosophie konzentriert man sich auf Sätze, deren Wahrheitswert anhand ihrer notwendigen und hinreichenden Bedingungen überprüft werden. Diese Konzentration auf Sätze führt zu einer gewissen Unabhängigkeit vom Text, da die Idee des Satzes im Sinne einer Theorie verstanden wird und nicht als gesellschaftlich geprägter Ausdruck.
- "Die radikale Textvergessenheit in der Philosophie schlägt sich nieder in einer verbreiteten Unbekümmertheit gegenüber variierenden Textausgaben oder Übersetzungen: Sieht man von der Nietzscheforschung als Sonderfall einmal ab (Born/Pichler 2015, Pichler 2015), scheren sich viele Philosophen keinen Deut darum, welche Textversion sie zitieren, die Frage der Zuverlässigkeit ist sekundär."
Geist contra Buchstabe
- Rezipienten der Philosophie produzieren im Gegensatz zur Literaturwissenschaft nicht einfach nur Sekundärliteratur, wenn sie über philosophische Texte schreiben, sie produzieren Philosophie.
- Der Text wird als Sinneinheit verstanden, der sich über alle Editionen erhalten kann.
Der "verständlichste" Text
- Philosophen haben keine richtigen Texte, sondern haben einen Konzeptpool, der sich manifestieren muss, egal in welcher Form
"Der beste Text"
- Dilthey folgt Kants Ausspruch: man soll den Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand
- es wird nicht der vorliegende Text, sondern der für die Idee des Editors "beste Text" veröffentlicht, das führt dazu, dass eine Kantausgabe veröffentlicht wird, die eine "Entwicklung" zeigt.
"Der wahre Text". Kritik der editorischen Vernunft
- Edieren bedeutet, den wahren Text hinter dem vorgelegten Text zu erkennen und diesen Herauszuarbeiten, die Ideen zu verinnerlichen und zu vermitteln
Traditionskonstruktion, Ideenpolitik und Heroenkult
- Probleme des Fortschrittsgedankens der Philosophie: Warum soll man Denker edieren, die von Kant widerlegt wurden oder vor dem linguistic turn geschrieben haben?
- Klassiker und Kanonbildung wurden in der Philologie begraben, sind aber in der Philosophie sehr lebendig (S. 25)
Text-Ästhetik
- Entstehungsvarianten sollen nach Ott angeblich keinen Eigenwert haben, der Autor bemerkt dazu, dass es schwierig ist, so etwas zu sagen, weil niemand sagen kannte, welche Textvariante dem Textverständnis dienlicher ist als eine andere.
Text vs. Literatur
- Die ästhetische Dimension hat auch bei philosophischen Texten eine Bedeutung
- bringt keine Beispiele
Einige Beispiele
- Philosophie soll unabhängig von der Textform erfassbar sein, Beispiele sollen aufzeigen, welche Probleme dabei entstehen
- 1. Streichen oder Ersetzen von Teilen eines philosophischen Textes
- Werkteile mit vermeintlich antiquierten Sachgehalten weglassen
- Herausgeber vermischen verschiedene Texte, stellen diese um: Hannah Arends: Gesammelte Schriften von Hermann Broch (1955)
- häufig Briefausgaben
- Descartes' Discours de la méthode war ursprünglich nur eine Einleitung, wird aber als eigenständiger Text rezipiert
- 2. Das Streichen von Paratexten
- Anweisungen des Autors fallen weg; es gab Lektüreanweisungen zu den Discours
- 3. Ikonoklasmus
- Bilder wurden entfernt bei Bacon, Descartes oder Hobbes
- Text-Bild-Relationen gehen verloren
- 4. Typographie
- die genaue Gestaltung der Textform hat Einfluss auf die Rezeptionsmotivation und den Verständnisgrad
- 5. Stilistische Eingriffe
- direkte Anrede wird zu einem "man" überführt - Descartes, Reduktion der Nähe
- 6. Das Privilegieren letzter Fassungen
- Favorisierungen von letzten Fassungen führen zu einer bewussten Verfälschung der Texte und damit eines ursprünglichen Verständnisses hin zu einm angeblich intendierten Verständnis
- 7. Purifikation: Das Ausscheiden von bestimmten Textsorten aus dem philosophischen Kanon
- Lehrgedichte werden nicht zur Philosophie zugeordnet, weil sie zu ästhetisch sind
- 8. Das Zensieren oder Vernichten von Texten
- Verbrennen von Briefen durch Dilthey beim Schleiermacher-Nachlass
- Nietzsche Briefe werden von seiner Schwester beseitigt
- Freges antisemitische Briefe werden nicht aufgenommen
Beschluss
- Editionen können philosophische Werke vernichten, die auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet waren.
- "Not tut, auch alle Texte der Philosophie als Texte zu betrachten, dabei die materiale Faktur vonTexten und deren Genese in den Blick zu nehmen, aber ebenso unabdingbar ist es, die interpretatorische Relevanz der Varianten und Variationen aufzeigen zu können, wofür eine pilosophische Ausbildung unabdingbar ist." (S. 33)
(Text-)Kritik und Interpretation. Zur "Frühen Einleitung" von Adornos Ästhetischer Theorie [Axel Pichler]
- Textologische Interpretatio schaut sich den Text an und reflektiert seine Aspekte während der konkreten Analyse
- Unterbrechungen mit Reflexionen
- Kommentare werden besprochen
Lektüre / Lesen am Beispiel von Hölderlins "Seyn... / Urtheil... Wirklichkeit..." [Martin Endres]
- Textologische Lektüre - Einflüsse deutlich machen: "Gibt es eine 'Programmatik' der Textologie, so besteht sie in der allgemeinen und grundsätzlich zu fordernden wissenschaftlichen Tugend, die eigene Position und Perspektive sowie die sie leitende Kategorien transparent zu machen und sie unaufhörlich auf ihre Gültigkeit und Angemessenheit hin zu befragen." (S. 80)
- Methodologisch kurze Einführung
- Materiale-mediale Verfasstheit: "Kommentar 1: Meine Lektüre ist wesentlich davon geprägt, zunächst auf die besondere mediale Verfasstheit des Textträgers und des Geschriebenen zu achten, dessen Materialität und Medialität zu reflektieren, da sich bereits von her aus ein Deutungsraum für die Interpretation des Textes aufspannt. Dies bedeutet nicht, dass die weitere Lektüre darauf aus sein muss, den Inhalt des Geschriebenen auf Erfüllung oder Bestätigung seiner material-medialen Verfasstheit hin zu lesen, sondern lediglich, dass die material-mediale Verfasstheit eine Dimension von Textualität für sich beanspruchen, die es ernst zu nehmen und zu befragen gilt." (S. 81)
- Editionskritik: "Kommentar 2: Die Lektüre hat nicht nur die material-mediale Verfasstheit des Textträgers zu reflektieren, sondern im Zuge dessen auch eine seine editorische Darstellung und Aufbereitung kritisch zu bedenken und gegebenenfalls zu korrigieren; dies kann so weit gehen, dass eine (ausschnittsweise oder gar vollständige) Neuedition des Textträgers nötig wird. Das ist besonders dann von Bedeutung, wenn die kritische Aktualisierung der editorischen Präsentationen neue Aspekte für die Lektüre freilegen kann, die in bisherigen Editionen verdeckt waren. Zugleich schafft die Aktualisierung eine Möglichkeit, bisherige Interpretationen kritisch zu überprüfen, die ihre Textbasis nicht angemessen und ausreichend reflektieren." (S. 83)
- Texte dürfen nicht auf ein Verständnis des Autors, des Themas, des Genres, etc. verkürzt werden. "Kommentar 3: Meine biherige Lektüre war davon geprägt, dass sie die konkrete Verfasstheit der Aufzeichnung auch in der Weise respektiert und reflektiert, dass sie sich dessen Besonderheiten vorbehaltlos aussetzt, diese Besonderheiten identifiziert und zur Geltung bringt - in diesem Fall die irreguläre und befremdliche Interpunktion und Syntax des ersten Satzes. Die Widerstandsfähigkeit für das Verstehen, die damit verbunden sein kann, versucht die Lektüre als solche zu exponieren und sie gerade nicht zugunsten eines bestimmten Vorverständnisses oder gemäß vermeintlich dominierender Kontexte und Interpretationen aufzulösen und konsensuell auf diese hin abzuschwächen. Das heißt nicht, dass die Lektüre nicht ihrerseits von Vorverständnissen und Interpretationen geprägt wäre, die es in jedem Lektüreschritt zu reflektieren und zu prüfen gilt. [...]" (S. 91)
- Exposition bedeutet die Mehrdeutigkeit des Textes hervorheben, anstatt eine Interpretation festzuschreiben: "Kommentar 4: Für den letzten Schritt meiner Lektüre kann ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden, der mein Vorgehen grundsätzlich kennzeichnet: Lektüre verstehe ich als Exposition - Exposition der Fragwürdigkeit und Problematik eines Textes im Sinne ihrer Darstellung und Explikation. Lektüre bedeutet für mich gerade nicht Identifikation und eineindeutige Festschreibung, sondern das Aufzeigen von Komplexität, von Mehrdeutigkeit und Mehrstelligkeit. [...]" (S. 100-101)
- Anhand der Verfasstheit eines Textes können Aspekte der Aussage sichtbar werden: "Kommentar 5: Mit Blick auf die Methodenreflexion meiner Lektüre ist dieser Punkt eigens zu kommentieren. In der möglichst präzisen Darstellung der Verfasstheit eines Textes können Aspekte der Aussage bzw. des Dargestellten sichtbar werden, die sich strukturell in der Sprachgebung des Ausgesagten bzw. in der Darstellung wiederfinden. Die Lektüre hat diese strukturellen Aspekte insofern besonders zu beachten, als der Text damit selbst die Kriterien bereitstellt und diskutiert, die für seine Deutung entscheidend sind."
Semantik und Pragmatik bei Montaigne und Nietzsche [Andreas Kablitz]
- Auseinandersetzung mit Michel de Montaignes Essais und Friedrisch Nietzsches Der Fall Wagner
- Unterscheidung der philosophischen Sprachen in Dialog, Abhandlung und Aphorismus (Höffe 2013)
- Beide Texte fallen anscheinend aus den kanonisierten klassischen Literaturgattungen heraus
- Mich hat die Unterscheidung interessiert, aber der Text war mir zu umfangreich, um daraus zunächst etwas für mich herauszunehmen
Diagrammata und Tabulae als Darstellungsweisen: Analysen, Beobachtungen und Beispiele [Lutz Danneberg]
- Diagramme und Tabellen müssen erklärt werden, um verstanden zu werden
- Beide Darstellungsweisen haben ein eigenes Bedeutungsspektrum und müssen demnach besonders interpretiert werden
"Gute" philosophische Gründe für "schlechte" Editionsphilologie. Zur Philosophischen Grammatik von Ludwig Wittgenstein und Rush Rhees damals und heute [Christian Ehrbacher]
- Editionen werden in einer Gegenbewegung zur Edierung von Philologen als "paradigmatische Materialisierungen herausragender Lesarten" gesehen (S. 260); soll die erste editorische Textarbeit würdigen
- Wittgenstein-Edierungen fanden in drei Phasen statt - 1. philosophisch durch Bekannte, 2. philologisch durch Literaturwissenschaftler, 3. philosophisch durch Kritiker der 2. Phase
Das Auftauchen der Schrift im Text. Typographische Schrift-Bilder und Textpräparate in Rilkes früher Lyrik [Thomas Rahn]
- Schrift wird als rhetorisches Element genutzt, um den Texten eine bestimmte Qualität zu geben
Textpraktiken in Hans Sedlmayrs kunstwissenschaftlicher Theoriebildung [Simon Morgenthaler]
- Textpraktiken: 1. Zitate, 2. Denkmodelle und 3. rhetorische und semantische Modelle
Fragen
- Was ist mit der heuristischen Funktion des Textbegriffes gemeint? (S. 2)
- Lässt sich ein konkreter Textbegriff verallgemeinern? (S. 3)
- Zwei Fragenkomplexe genauer verstehen. (S.3-4)
[Duration: 30 min]