ref-id: |
GDDZL2NH |
Show creator |
Lotman/Keil |
All creators |
Lotman, Ju M. (author); Keil, Rolf-Dietrich (author) |
Title |
Die Struktur literarischer Texte |
Show date |
1993 |
Type name |
book |
Ziel
- "Bei der Schaffung und bei der Rezeption eines Kunstwerkes sendet, empfängt und speichert der Mensch eine spezielle Art von Information, nämlich künstlerische Information, die von den strukturellen Besonderheiten der künstlerischen Texte ebenso wenig getrennt werden kann wie der Gedanke von der materiellen Struktur des Gehirns. Das Ziel dieser Darstellung ist eine allgemeine Skizze der Struktur der 'Sprache' der Kunst und ihres Verhältnisses zur Struktur des künstlerischen Textes, ihrer Ähnlichkeit und Verschiedenheit im Bezug auf die analogen linguistischen Kategorien, d. h. die Erklärung, wie ein künstlerischer Text zum Träger eines bestimmten Gedankens, einer Idee wird, und wie sich die Textstruktur zur Struktur einer solchen Idee verhält. Der Verfasser hofft, in Richtung auf dieses Ziel hin zumindest einige Schritte tun zu können." (S. 18) [Ich gehe davon aus, dass mit künstlerischer Information lediglich die Botschaft, der Gedanke oder die Idee gemeint ist, die ein bestimmter Text besitzen kann.]
Methode
- künstlerisch meint grundsätzlich einen klassifizierenden Begriff für etwas, das "Kunstcharakter hat" (S. 7)
- Wörtlich übersetzter Titel: Die Struktur des künstlerischen Textes und nicht des literarischen Textes.
- "Darunter ist einerseits jeder Text zu verstehen, der Kunstcharakter hat, also nicht nur ein verbaler oder gar nur ein schriftlich fixierter, sondern ebenso gut ein Gemälde, ein Film, ein Musikstück, eine architektonische Schöpfung, ein Ballett usw." (S. 8)
Fragen
- Was ist künstlerische Information? (S. 18) - Ich gehe davon aus, dass mit künstlerischer Information lediglich die Botschaft, der Gedanke oder die Idee gemeint ist, die ein bestimmter Text besitzen kann.
Referenzen
Konzepte
- Sprache: Sprache ist eine Form der Kommunikation zwischen dem Sender einer Mitteilung und dem Empfänger einer Mitteilung. Sende- und Empfangsvorrichtungen können Menschen, Gruppen von Menschen, Geräte oder man selbst sein. (S. 22) "Somit erscheint die Sprache als eine Art von Kode, mit dessen Hilfe der Empfänger die ihn interessierende Mitteilung entziffert." (S. 28)
- Text: Ein Text ist eine Mitteilung in einer Sprache. (S. 18)
- Kunst / Kunstwerk: "Die Kunst kann somit beschrieben werden als eine Art sekundärer Sprache, und das Kunstwerk folglich als ein Text in dieser Sprache." (S. 23)
- Verkettung: Ein künstlerischer Gedanke realisiert sich durch Verkettung, durch eine bestimmte Struktur. (S. 25/26) "Die Idee ist nicht in irgendwelchen Zitaten enthalten, und mögen sie noch so glücklich ausgewählt sein, sondern sie kommt in der gesamten künstlerischen Struktur zum Ausdruck." (S. 26)
- Bedeutung: In Anlehnung an Shannon von Uspenskij: "die Invariante bei umkehrbaren Übersetzungsoperationen" (S. 59) meint das, was sich nicht verändert, wenn man von zwei verschiedenen Sprachen ineinander übersetzt [Mich erinnert das vor allem an Quines 1960 veröffentlichte Schriften1. Jetzt muss ich mich anscheinend auch mit Shannon näher beschäftigen, um zu verstehen, woher diese Vorstellung stammt.]
- Extratextuelle Bezüge: Beziehung einer Menge von Elementen im Text zu der Menge von Elementen aus denen ausgewählt wurde. (S. 81)
Zusammenfassung
Einführung
- Kunst entsteht trotz dem Versuch ihrer Unterdrückung immer wieder.
- Warum ist sie so ein zentraler Bestandteil von Gesellschaften? (S. 12)
- Zentral für die Textologie: "Die gleiche Überzeugung macht sich bemerkbar in den schwachen Seiten des Literaturunterrichts in der Schule, wo den Schülern ständig eingeredet wird, einige Zeilen logischer Schlußfolgerungen (mögen sie selbst durchdacht und ernstgemeint sein) machten das ganze Wesen eines Kunstwerks aus, und alles übrige seien zweitrangige 'künstlerische Besonderheiten'." (S. 14)
- Einführung eines Kommunikationsmodells anhand der Kommunikation zwischen Lebewesen und Umwelt. (S. 15)
- Dichtung oder Kunst wird als Sprache des Lebens erkannt, "mit ihrer Hilfe erzählt die Wirklichkeit von sich selbst." (S. 18)
- Zentral für den Kunstwerk-Begriff: "Wenn aber Kunst ein besonderes Kommunikationsmittel, eine in besonderer Weise organisierte Sprache ist (wobei wir diesen Begriff so weit fassen wie es in der Semiotik üblich ist, nämlich 'jedes geordnete System, das als Kommunikationsmittel dient und Zeichen verwendet'), dann kann man die einzelnen Kunstwerke - d. h. die Mitteilungen in dieser Sprache - als Texte in dieser Sprache ansehen."
Die Kunst als Sprache
- "Grundsätzlich kann jedes System, das dem Zweck der Kommunikation zwischen zwei oder mehr Individuen dient, als Sprache definiert werden" (S. 19)
- Unterscheidung der Sprachen von Systemen, 1. die nicht als Kommunikationsmittel dienen, 2. die zwar als Kommunikationsmittel dienen, aber keine Zeichen verwenden, 3. die als Kommunikationsmittel dienen, aber völlig oder ganz ungeordnete Zeichen verwenden.
- 1. Ein System, das nicht unmittelbar in seiner Zielsetzung mit der Speicherung und Weitergabe von Information zu tun hat. [Möglicherweise die Ausführung von Körperfunktionen und die Erfüllung von Grundbedürfnissen. Lotman gibt leider keine Beispiele.]
- 2. Zeichenkommunikation findet zwischen Individuen statt, zeichenlose Kommunikation innerhalb eines Individuums, zwischen Organen. Eher wahrscheinlich die Unterscheidung zwischen primären (direkt) und sekundären (zeichenbasiert) Signalsystemen.
- 3. Mimik, Gestik (Vgl. S. 22) [Ich denke, dass die Bezeichnung Ungeordnetheit in Bezug auf Mimik und Gestik einen Fehlschluss darstellt, weil Mimik und Gestik nicht beliebig ausgetauscht werden können.]
- Unterscheidung von Sprachen in natürliche und künstlerische Sprachen, die direkt genutzt werden, um eine Kommunikation zu ermöglichen und sekundäre Sprachen, die über dem Niveau der natürlichen Sprachen errichtet werden. (S. 22)
- Kunst ist eine sekundäre Sprache, das mein
st, dass sie "nach dem Typ der Sprache gebaut" (S. 23) ist. "Die Auffindung syntagmatischer und paradigmatischer Zusammenhänge [...] gestattet es, auch diese Künste als Objekte der Semiotik anzusehen, d. h. als Systeme, die nach dem Typ der Sprachen gebaut sind." (S. 23) - Zitat von Tolstoj: "[...] jeder Gedanke aber, der für sich allein mit Worten ausgedrückt wird, verliert entsetzlich, wenn man ihn so für sich nimmt und ohne die Verkettung, in der er sich befindet." (S. 25)
- Die Frage nach Form und Inhalt in künstlerischen Texten sollten lieber ersetzt werden "durch den Begriff der Idee, die sich in einer adäquaten Struktur realisiert und außerhalb dieser Struktur nicht vorhanden ist." (S. 26/27)
- Die Kunst als eines unter anderen Zeichensystemen: Unterscheidung von Mitteilung (Einzelnes, parole) und Sprache (System, langue). "Wenn ein Schriftsteller ein Genre, einen Stil oder eine Kunstrichtung wählt, so ist das auch eine Wahl der Sprache, in der er vorhat mit dem Leser zu sprechen." (S. 35) [Die Sprache wird also zu einem höheren Abstraktionsgrad eines Textes, der andere Texte ermöglicht. Ein Text selbst kann sich über die Zeit hinweg zu einer Sprache entwickeln, da die Zufälligkeit des Inhalts plötzlich zum Kode für zukünftige Texte wird.]
- Der Begriff: Sprache der Literatur: Die Sprache der Poetik ist eine zusätzliche, modellierende Sprache, die auf der natürlichen Sprache aufsetzt. (S. 38ff) Eine Kunst ist demnach deshalb ein besonderes Kommunikationsmittel, weil es einen eigenen Kode schafft, in dem es arbeitet.
- Eine weitere Erkenntnis aus diesem Gedanken ergibt, dass Kunst "das sparsamste und konzentrierste Verfahren der Informationsspeicherung und -übermittlung" (S. 42) ist. "Der literarische Text verhält sich wie eine Art lebender Organismus, der mit dem Leser durch eine Rückkopplung verbunden ist und ihm Unterricht erteilt." (S. 43)
- [Das Hauptproblem, das Lotman vernachlässigt, besteht darin, dass dieser Unterricht nicht homogenisiert oder verallgemeinert werden kann. Es ist fraglich, ob Menschen jemals genauso effizient aus einem literarischen Text lernen können, wie aus einem Fachbuch.]
- Von der Pluralität der künstlerischen Kodes: Künstlerische Texte können unterschiedlich interpretiert werden, je nach sprachlicher Ausstattung des Lesers. Dies macht es möglich, dass I. a) Sender und Empfänger, die gleiche künstlerische Sprache benutzen, I. b) der Sender nicht deutlich macht, welche Sprache er wählt, aber der Empfänger diese relativ eindeutig aus einer kleinen Liste von Möglichkeiten erkennt; II. a) der Empfänger dem Text seine Sprache aufzwingt (der Text wird so behandelt, als wäre er nicht künstlerisch), II. b) der Empfänger zunächst versucht, den Text gewöhnlich aufzunehmen, daran scheitert und mit Hilfe des Textes eine neue Sprache kennenlern
uss mit Hilfe des Textes eine neue Sprache kennenlernent oder sie mit seiner eigenen Sprache vermischent. - Künstlerische Texte haben ebenfalls die Fähigkeit, "Information zu akkumulieren" (S. 46), indem der Leser zufällige Elemente des Textes so organisiert, dass ihnen eine vom Autor nicht beabsichtigte Bedeutsamkeit zukommt.
- *Von der Größe der Entropie in den künstlerischen Sprachen des Autors und des Lesers: Drei Erkenntnisse über den Informationsumfang von Sprachen von Kolmogorov übernommen: 1. Sinnfülle: die Fähigkeit einer Sprache, in einer bestimmten Länge eine bestimmte Information zu vermitteln, 2. Elastizität: die Möglichkeit, ein und denselben Inhalt auf mehrere gleichwertige Arten zu übermitteln, 3. die formalen Beschränkungen, die der Elastizität auferlegt sind und ihren Informationsumfang dementsprechend verringern. - Sender und Empfänger haben unterschiedliche Auffassungen über die Entropie eines Textes: Der Sender hat Möglichkeiten für die Formulierung, der Empfänger nimmt an, dass der Text nicht anders verfasst werden konnte. (S. 50) Diese Perspektiven lassen sich auch vertauschen. Daraus ergeben sich vier Situationen für eine Autor- und Leser bzw. Sender- und Empfängerperspektive, die verschiedene Extremfälle darstellen.
Das Problem der Bedeutung im künstlerischen Text
- Bedeutung ist die Invariante bei umkehrbaren Übersetzungsoperationen. (S. 59)
- Gegenüberstellung von Ausdrucksebene (Materialität, Medialität) und Inhaltsebene (Idee), beide Strukturketten überschneiden sich im einzelnen Zeichen (S. 60)
- Bedeutung entsteht durch interne Umkodierung: Ein Zeichen bekommt seine Bedeutung nicht nur durch die Überschneidung von Strukturketten, sondern in bestimmten Fällen auch als Relationselement im selben System. Die Bedeutung in "a = b + c" von a ist b + c. Die Zeichen drücken damit eine Beziehung zu anderen Zeichen im System aus. (S. 61)
- Bedeutung entsteht durch externe Umkodierung: Äquivalenz zwischen zwei Strukturketten (Medialität und Idee) und ihren Elementen. Kontaktherstellung zwischen Medialität und Idee kann als paarige externe Umkodierung definiert werden, da diese lediglich auf zwei Systeme zugreift.
- multiple externe Umkodierungen ergeben sich aus der Überschneidung von mehr als zwei verschiedenen äquivalenten Elementen in verschiedenen Systemen
- Umkodierung meint den Versuch der Bedeutung der Elemente einer Strukturebene durch eine weitere Perspektive (entweder aus derselben oder einer verschiedenen Strukturebene) näherzukommen, indem versucht wird eine Äquivalenz oder andere Beziehung herzustellen. (S. 75)
- "[D]ie Äquivalenz eigentlich nichtäquivalenter Elemente führt weiter zu der Vermutung, daß Zeichen, die auf der sprachlichen Ebene verschiedene Denotate haben, auf der Ebene des sekundären Systems ein gemeinsames Denotat besitzen. [...] Ein sekundäres modellbildendes System vom Typ Kunst konstruiert sein eigenes System von Denotaten, das nicht etwa eine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt." (S. 76/77)
- Unterscheidung von zwei Typen der Äquivalenz:
- Umkodierung im Bereich der Semantik: semantisch verschiedene Elemente wie Schild und Käse werden zum selben: Mond.
- Umkodierung im Bereich der Pragmatik: semantisch ähnliche Elemente werden unterschiedlich funktional gebraucht
Der Begriff Text
Text und extratextuelle Strukturen
- Text wird vom Kunstwerk und von einem realisierten Gedanken unterschieden
- Extratextuelle Bezüge: Beziehung einer Menge von Elementen im Text zu der Menge von Elementen aus denen ausgewählt wurde.
- Unterscheidung von extratextuellen Bezügen auf der Ebene der künstlerischen Sprache und der künstlerischen Mitteilung
- der künstlerischen Sprache: Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Element des Textes einem Element der Auswahl entspricht
- der künstlerischen Mitteilung: Wahrscheinlichkeit, mit der eine Auslassung im Text eine eigene Bedeutung erhält, aufgrund der allgemeinen Erwartung, die von den Elementen der Auswahl ausgeht: wenn zum Beispiel ein Reim nicht vollendet wird.
Der Begriff Text
- 1. Explizität: Text ist in bestimmten Zeichen fixiert und steht damit in Opposition zu extratextuellen Strukturen, die nur einen Möglichkeitsraum beschreiben, in dem jemand arbeitet und dem Nichtausgedrückten, was dem Text etwas Konkretisiertes und damit Reales zuweist. Normalerweise: Explizität als Ausdruck durch Zeichen einer natürlichen Sprache. "Diese Ausgedrücktheit als Gegensatz zur Nichtausgedrücktheit zwingt dazu, den Text als Realisierung eines bestimmten Systems, als dessen materielle Verkörperung anzusehen." (S. 83/84) Text ist immer parole. Texte enthalten systemhafte und -externe Elemente. Auch wenn je nach Individuum systemexterne Elemente systemhaft sein können, bleibt das Vorhandensein von systemexternen Elementen vorhanden, da wir niemals von allem wissen können, wie ein bestimmter Ausdruck konkret verstanden werden muss. Gleichzeitig kann dieses Systemhafte und Systemexterne sich je nach der Ebene der Untersuchung schwanken. Während ein naives Verständnis systemhaft nachvollziehbar ist, könnte ein über das Allgemeinverständnis hinausgehendes Verständnis dementsprechend systemextern sein.
- 2. Begrenztheit: Der Text hat die Eigenschaft, begrenzt zu sein.
Anmerkungen
Literatur
- Lotman, Ju M.; Keil, Rolf-Dietrich. 1993. Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. UTB für Wissenschaft Literaturwissenschaft 103. München: Fink. [ref: GDDZL2NH]
- Quine, W. V.. 1994. Word and object. 20. pr. The MIT Press paperback series 4. Cambridge, Mass: MIT Press. [ref: LAHTFPT3; #1]
[Duration: 1 min]