Diagnostik, Beratung, Förderung

Created: 2020-06-30 Updated: 2020-07-03

[Duration: 33 min]

In diesem Bereich beschäftige ich mich intensiver mit der Erkennung von Problemen bei Lernenden und mit damit einhergehenden Beratungs- und Förderungsmöglichkeiten.

Gliederung

  1. Begründung einer professionellen Diagnostik
  2. Theoretische Grundlagen der Diagnose
    1. Ebenen diagnostischer Anforderungen an Lehrkräften
    2. Dimensionen diagnostischer Urteile
    3. Aufgaben und Anlässe für Diagnosen
    4. Diagnostizieren als Prozess
    5. Diagnostische Methoden
  3. Messtheoretische Grundlagen
    1. Besonderheiten in den Sozialwissenschaften
    2. Gütekriterien
    3. Bezugsnormen
  4. Fünfer-Schritt des expliziten Diagnostizierens

Begründung einer professionellen Diagnostik

Zunächst stellt sich die Frage, warum eine professionelle und verantwortungsvolle Haltung des Diagnostizierens als Lehrperson notwendig ist.

Professionelle Diagnostik ist die Fähigkeit eines Urteilenden, über einen reflektierten und methodisch kontrollierten Prozess Personen anhand von expliziten Aussagen über bestimmte Zustände, Prozesse und Merkmale einschätzen und daraus bestimmte Tendenzen ableiten zu können (Hesse/Latzko 2017). Häufig nutzen Lehrpersonen jedoch eine schnelle, implizite und wenig reflektierte Einschätzung, da sie sich häufig in einer Situation befinden, in der sie viele Menschen beurteilen müssen. Da diese Beurteilungen allerdings Auswirkungen auf den Lebensweg der Personen besitzen können, ist es notwendig, diese so genau wie möglich durchzuführen und sie deshalb wissenschaftlich abzusichern.

In vielen Lernsituationen reicht eine Alltagsdiagnostik vor allem aber auch deshalb nicht aus, weil es aufgrund des Hierarchieunterschieds, der unterschiedlichen Lebensbedingungen und der verschiedenen entwicklungspsychologischen Stadien zu einem Ungleichgewicht zwischen den Wahrnehmungen von Lehrperson und Lernenden kommen kann. Dies führt dazu, dass Lehrende, voreingenommen gegenüber bestimmten Verhaltensweisen sind, die sie mit positiven oder negativen Erwartungen gegenüber den Lernenden verbinden, was anschließend wiederum jeweils zu positiv und negativ ausgeprägten Handlungsweisen der Lehrenden führen. Dieser Pygmalioneffekt hat dann ebenfalls Auswirkungen auf die Verhaltensweisen und Erwartungen der Lernenden, da diese auf Basis einer ungenauen Einschätzung möglicherweise ungerecht behandelt werden.

Darüber hinaus existieren systematische Fehler bei der Einschätzung: milde und strenge Effekte, der Halo-Effekt und auch Referenzfehler. Milde Effekte werden vor allem deutlich bei einem Lehrpersonenwechsel, da eine Person möglicherweise als zu gut eingeschätzt wurde und sein Selbstbild bei der neuen Lehrperson nicht mehr seinen bisherigen Erwartungen entsprechen kann. Der strenge Effekt umfasst eine zu schlechte Einschätzung, die Menschen daran hindern kann, sich grundsätzlich weiter in ihrem Berufsweg zu engagieren. Der Halo-Effekt beschreibt eine kognitive Verzerrung, bei der die stärker sichtbaren Effekte, die nicht so gut sichtbaren Effekte überdecken und damit die Einschätzung der Person steuern. Und Referenzfehler führen zu möglicherweise ungünstigen Kategorien wie fleißig oder faul, denen Lernende einmal zugeordnet nur schwer wieder entkommen können. Auch die Tendenz zur Mitte oder eine Überbetonung der Extreme in Leistungsbewertungen treten hin und wieder auf und verkomplizieren eine Diagnose. Gleichzeitig entstehen über eine Überprüfung hinweg Schwankungseffekte, die auf den Bewertungsmaßstab von Klausuren oder mündlichen Leistungen Einfluss nehmen können.

Obwohl eine implizite Diagnose in den vielen Fällen ausreichen kann, solange die Lehrperson sich darüber bewusst ist, dass diese ungenau und vor allem vorläufig ist (man spricht in diesen Fällen von diagnostischem Optimismus), wird eine professionelle explizite Diagnose vor allem dann notwendig, wenn sie einen Einfluss auf die Zukunft der entsprechenden Person besitzt: Gibt es schwierige, aber anstehende didaktische Entscheidungen? Sind kritische Unterrichtsereignisse oder psychologische Probleme aufgetreten? Oder sollen objektive Zeugnisse und Bildungsempfehlungen erteilt werden?

Theoretische Grundlagen der Diagnose

Um eine professionelle Diagnose zu ermöglichen, werden Standards eingeführt, die Urteile bestimmten Beobachtungen zuschreiben. Anhand der wissenschaftlichen Methodik wird daraufhin der Versuch unternommen, Fehleinschätzungen zu minimieren.

Ebenen diagnostischer Anforderungen an Lehrkräften

Um Informationen über Lernende gewinnen zu können, ist es notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Situationen überhaupt dazu in der Lage sind, diese Informationen zu vermitteln. Langfeld (2006) klassifiziert diese Situationen auf drei Ebenen:

Dimensionen diagnostischer Urteile

Helmke (2007) schlägt eine Liste von diagnostischen Problemstellungen vor, denen sich Lehrpersonen gegenübergestellt sehen.

Aufgaben und Anlässe für Diagnosen

Die Diagnose kann dabei helfen, verschiedene unterschiedliche Fragestellungen zu klären. Die nachfolgende Liste von Hesse und Latzko (Hesse/Latzko 2017) soll dabei helfen, einen Überblick zu verschaffen:

Diagnostizieren als Prozess

Diagnosen werden nur dann eingeläutet, wenn ein Problem oder eine diagnostische Fragestellung vorhanden ist. Es ist nicht sinnvoll, eine Überprüfung einzuleiten, wenn es keinen Anlass dafür gibt. Dabei wird eine Diagnose als Prozess betrachtet, der in mehreren Stufen abläuft und manche dieser Stufen auch mehrfach wiederholt, um zu hilfreichen Ergebnissen zu gelangen.

Das Ablaufmodell von Hesse und Latzko (2017, S. 64) in Anlehnung an Lukesch gliedert sich dahingehend in folgende Abschnitte: 1. Problem/Fragestellung, 2. Hypothesenbildung mit Feststellungshypothesen (Was wird überprüft?) und Erklärungshypothesen (Wie ist das Problem entstanden?), 3. Methodenauswahl (Gespräch, Beobachtung, Test), 4. Hypothesenüberprüfung, 5. Diagnostisches Urteil entweder mit Gutachten oder Intervention/Beratung.

Diagnostische Methoden

Die Diagnose kann mit unterschiedlichen Überprüfungsmethoden umgesetzt werden. Einige davon sollen im nachfolgenden Bereich näher vorgestellt werden. Eine Reduktion auf den diagnostischen Test ist dabei nicht sinnvoll, da vor dem Einsatz dieser Methode das Spektrum der Beobachtungs- und Gesprächsmethoden ausgeschöpft werden sollte, da diese mit weniger Aufwand für alle Beteiligten verbunden sind. Dennoch müssen alle Methoden den bereits erwähnten wissenschaftlichen Methodik entsprechen, um als Diagnosewerkzeug verwendet werden zu können.

Diagnostischer Test

Bei einem diagnostischen Test handelt es sich um ein wissenschaftliches Routineverfahren zur Erfassung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Tests können anhand folgender Aspekte unterschieden werden:

Standardisierte Tests sollten nur zum Einsatz kommen, wenn andere Verfahren nicht ausreichen, um ein aufgetretenes Problem zu lösen beziehungsweise wenn subjektive Urteile des Lehrkraft gegengeprüft werden sollen.

Voraussetzung für den Einsatz eines Tests ist, dass die Lehrkraft das Testhandbuch durchgearbeitet und die Handhabung des Tests verstanden hat.

Wer nicht fördern und helfen willl, sollte keine Tests einsetzen. Die Testergebnisse stellen eine Möglichkeit dar, zu einem diagnostischen Urteil zu gelangen. Sie müssen allerdings ebenfalls gegengeprüft werden.

Beispiele für standardisierte Testverfahren sind Mehrfächertests wie der HST 4/5 oder KLASSE 4, Tests der Lesekompetenz wie KNUSPEL, ELFE 1-6 oder LGVT 6-12, Tests der Rechtschreibleistung DERET und HSP 1-10, Mathematische Tests wie DEMAT 9+ oder MARS 4-6 sowie Vergleichstests wie VERA 3.

Diagnostisches Gespräch

Diagnostische Gesprächsformen unterscheiden sich vordergründig anhand des Strukturierungsgrades und der jeweiligen Zielsetzung:

In Abgrenzung zu Alltagsgesprächen werden diagnostische Gesprächsformen intensiv vorbereitet und gewissenhaft durchgeführt. Die Planung beginnt dabei mit der Überlegung, welches Ziel mit dem Gespräch verfolgt wird. In einem Ausarbeitungsprozess entsteht ein Gesprächsleitfaden, der die wichtigsten Fragen beinhaltet und der im konkreten Gespräch abgearbeitet wird.

Weiterhin ist zu bedenken, den Gesprächspartner über die Dauer des Gesprächs zu informieren, damit dieser seine Kräfte einteilen kann. Gleichzeitig übernimmt die Lehrperson moderative Tätigkeiten und muss auf sein Gegenüber Rücksicht nehmen.

Das Gespräch gliedert sich dementsprechend in drei grundlegende Phasen: Vorbereitungsphase (Zielbestimmung, Themenbereiche, Gesprächsleitfaden, Kontexte klären), Durchführung (permanente Kontrolle des Gesprächs) und Auswertungsphase (Sicherung der Gesprächsinformationen, Sichtung des Materials, Prüfung auf Widersprüche).

Die Sicherung der Güte der Befragungsergebnisse wird anhand einer ständigen Kontrolle aller möglicher Einflussfaktoren sichergestellt. Dabei ist es wichtig, dass die Lehrperson eine positive Beziehung zum Befragten aufrechterhält. Geeignete Fragen für die Güte sind Funktionsfragen, direkte und indirekte Fragemethoden (Antworten bei Tabuthemen sind eher durch indirekte Fragetechniken zu erreichen) sowie projektive Fragen (Was würdest du gern tun?).

Diagnostische Beobachtung

Die diagnostische Beobachtung unterscheidet sich von der alltäglichen Beobachtung dadurch, dass sie geplant und kontrolliert durchgeführt werden muss. Eine Beobachtung ist dahingehend als diagnostische Methode auszuwählen, wenn bestimmte Verhaltensweise auf Häufigkeit, Dauer oder Intensität untersucht werden sollen.

Dabei werden zwei Funktionen erfüllt: Hypothesenbildung (bei einer freien Beobachtung) und Hypothesenprüfung (differenzierte Erfassung von Informationen). Es muss bei der zweiten Beobachtungssituation vor allem ein Plan erstellt werden, was genau, auf welche Weise und wie kodiert beobachtet werden soll.

Gerade die Kodierung muss vorher genau bestimmt werden, damit ein Merkmal auch wirklich erfasst werden kann. Eine technische Beobachtung erfasst alle Merkmale, kann aber stärker zu Einflusseffekten führen. Im Gegensatz dazu steht die Verbalmethode, bei der das Verhalten in seinem Ablauf und häufig in Dialogform verschriftlicht wird. Die Indexmethode ermöglicht dahingehend eine Markierung anhand vorgefertigter Ja-Nein-Entscheidungsfragen. Kategoriensysteme bauen auf dieser Methode auf, indem sie aber vollständigere Kategorien als Möglichkeit vorgeben.

Wahrnehmung ist ein selektiver Prozess, sodass Beobachtungen immer gewissenhaft erfolgen müssen, um überhaupt ein diagnostisches Potenzial ausschöpfen zu können. Ursachenerklärungen dürfen nicht mit der Interpretation des Verhalten gleichgesetzt werden, da diese anhand der Beobachtung nur bedingt zu überprüfen sind.

Messtheoretische Grundlagen

Die pädagogisch-psychologische Diagnostik basiert im Großteil auf den wissenschaftlichen Methoden der Psychologie und steht damit im Einklang mit der klassischen Testtheorie. Diese beinhaltet das Messen als spezifizierte Zuordnung von Zahlen zu Objekten, sofern diese Zuordnung eine gleichförmige Abbildung einer empirischen Eigenschaft (zum Beispiel Größe eines Menschen) auf einen dazugehörigen relativen Zahlenwert oder Rang darstellt (nach Orth 1983, S. 138).

Verschiedene Messskalen stellen dabei verschiedene Messniveaus dar, die unterschiedliche Genauigkeiten für eine Messung wiedergeben.

Besonderheiten in den Sozialwissenschaften

Wie soll eine Deutschleistung gemessen werden? Mit dieser Frage muss sich die Messtheorie in den Sozialwissenschaften auseinandersetzen. Dafür benutzt sie Konstrukte, die modellierend auf das zu messende Element zurückverweisen. Dies wird durch den bereits erwähnten Prozess der theoretischen Präzisierung des zu messenden Merkmals ermöglicht. Dabei wird über eine Operationalisierung genau bestimmt, wie ein bestimmter Indikator in Zusammenhang mit einer zu messenden Dimension steht. Ist eine Operationalisierung fehlerhaft, kann es zu Fehldiagnosen kommen.

Um dieser Problematik zu entgegnen, kann die klassische Testtheorie für dieses Problem herangezogen werden. Diese unterscheidet dahingehend zwischen beobachteten Wert (X), wahren Wert (T) und Messfehler (E). Der wahre Wert ist zeitkonstant und wird bei der Beobachtung durch einen Messfehler ergänzt, der den beobachteten Wert vom wahren Wert abweichen lässt. Da der Messfehler allerdings ein zufälliger und damit unsystematischer Wert ist, wird davon ausgegangen, dass sich der Messfehler gegen 0 tendiert, wenn mehr Datenmaterial genutzt wird, was dazu führt, dass sich der Mittelwert der beobachteten Werte immer weiter dem Mittelwert der wahren Werte annähert.

Gütekriterien

Die bereits erwähnten Gütekriterien bei der Präzisierung der Messmethoden sollen nun tiefgreifender erläutert werden:

Die Gütekriterien der Reliabilität und der Validität werden dabei durch einen Korrelationskoeffizienten (r) in ihrer Qualität quantitativ bestimmt, wobei 0 keine Korrelation und +1 oder -1 eine vollständige Korrelation beziehungsweise vollständige negative Korrelation bezeichnet. Ein hoher Korrelationskoeffizient der Reliabilität über mehrere Messungen hinweg (vielleicht r=0,8) würde bedeuten, dass eine Reliabilität mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zwischen den Messungen vorhanden ist.

Bezugsnormen

Für Messungen ist es immer notwendig, die entsprechenden Messungen in ein Bezugssystem einzubetten. Rheinberg (2001) formuliert dafür drei konkrete Bezugsnormen, nach denen eine Messung stattfinden kann.

In diesem Zusammenhang werden diagnostische Datensammlungen auch zur Eichung bestimmter Bezugsnormung verwendet, indem sie Normdaten für weitere Messungen ermöglichen.

Für die Bezugsnormen und die Normskalierung wird eine Normalverteilung angenommen, welche davon ausgeht, dass 68% aller Individuen unter einer Standardabweichung vom Durchschnittswert aller überprüften Individuen entfernt liegen. Für die Darstellung der Normalverteilung haben sich dahingehend mehrere Wertskalen durchgesetzt:

Die klassische Testtheorie ist vor allem für die Identifikation von Unterschieden zwischen Individuen zu einem gegebenen Zeitpunkt geeignet. Häufig ist es allerdings sinnvoll, die Veränderung eines Merkmals reliabel über die Zeit erfassen zu können. Solche Testverfahren werden in der probalistischen Testtheorie beschrieben, wurden bisher allerdings nur begrenzt für die pädagogisch-psychologische Diagnostik ausgearbeitet (vgl. TIMSS-Studien, PISA-Studien, FLVT5-6, Verlaufsdiagnostik sinnerfassenden Lesens [VSL]).

Fünfer-Schritt des expliziten Diagnostizierens

Das Modell von Hesse und Latzko (2017, S. 91ff) soll vor allem dabei helfen, eine strategische Hilfe für die diagnostische Tätigkeit zu sein und versucht die vorangegangenen Voraussetzungen in einen Ablauf zu integrieren.

  1. Formulierung der diagnostischen Fragestellung oder des Problems und die theoretische Einordnung: Die theoretischen Grundlagen stellen die Basis dafür dar, was eine Lehrperson überhaupt entdecken kann und wie sie mit bestimmten Unterrichtsereignissen umgehen soll.
  2. Ableitung theoriegeleiteter Hypothesen: Es sollen stets mehrere Hypothesen für das Auftreten des Problems im Alltag und die Erklärung des Auftauchens des Problems formuliert werden, damit eine konkrete Auswahl der Indikatoren und damit für die Auswahl der Messmethode stattfinden kann.
  3. Sorgfältige Auswahl der diagnostischen Methoden zur Hypothesenprüfung: In diesem Abschnitt wird eine Überprüfungsmethode anhand der bisherig geschilderten Bedingungen ausgewählt, die die ausgewählten Hypothesen am besten überprüfen kann.
  4. Durchführung der Untersuchung, Integration von erhobenen Einzelbefunden in eine Diagnose und Problemklärung anhand der Untersuchungsergebnisse: Es findet eine planmäßige und ökonomische Strukturierung der Durchführung statt, die der entsprechenden Methode gerecht wird. Die erhobenen Daten werden sorgfältig ausgewählt und auf Widersprüche überprüft. Im Falle einer Falsifikation beginnt die Treatment-vorbereitende Diagnostik beispielsweise wieder von vorn.
  5. Planung und Durchführung der Intervention, Förderung, Beratung: Die wesentliche Aufgabe besteht darin, die Unterschiede zwischen den erhobenen Ist- und den erwünschten Soll-Zustand zu beschreiben und in konkrete kognitive, soziale und emotionale Ziele und damit Handlungsempfehlungen umzusetzen.